Es ist das inoffizielle Feierviertel Münchens: Ob im Bahnwärter Thiel, in der Kneipe Frisches Bier, auf der Terrasse der Alten Utting oder in der Gruam – im Schlachthofviertel kann man problemlos die Nacht zum Tag machen.
„Kein Bier in München, das funktioniert nicht“, sagte Paul, als ich ihm gestern zum Geburtstag gratulierte. Er ist aus London zu Besuch und hat sein neues Lebensjahr so wild gefeiert, dass er heute mit einem Radler kontern wird. Als wir uns verabredeten, habe ich vorgeschlagen, dass wir uns auf dem Schiff im Schlachthof treffen und schickte ihm die Adresse. Vielleicht hat er gedacht, er habe sich verhört, denn als er kommt, wirkt er überrascht. Paul ist zum ersten Mal auf der Alten Utting, einem ausrangierten Ausflugsdampfer, der als Kunst-, Kultur- und Gastrostätte auf der Lagerhausbrücke thront, mit herrlicher Aussicht auf den alten Südbahnhof, ein Eckhäuschen mit bunten Vogel-Graffiti und die Großmarkthalle.
Das Schlachthofviertel vereint Markthallenflair, Subkultur und mit dem Einzug des Volkstheaters auch Hochkultur. Es ist das inoffizielle Feierviertel Münchens.
In den vergangenen Jahren hat sich der Teil der Stadt, in der die Isarvorstadt auf Sendling trifft, in eine eigene kleine Welt verwandelt, die nie schläft. Die Lastwagen liefern um drei Uhr morgens, ab sechs Uhr wird die Ware verkauft: Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch. Und das seit mehr als hundert Jahren. Deswegen wird die Großmarkthalle liebevoll als „Bauch“ der Stadt mit Herz bezeichnet. Das Schlachthofviertel vereint Markthallenflair, Subkultur und mit dem Einzug des Volkstheaters auch Hochkultur. Es ist das inoffizielle Feierviertel Münchens.
Man muss schon auf einer Insel wohnen, so wie Paul in Großbritannien, um nichts von der Alten Utting gehört zu haben. Selbst die New York Times hat von dem „boat on the bridge“, dem Boot auf der Brücke berichtet. 66 Jahre wurden auf der MS Utting Ausflügler über den Ammersee geschippert und Hochzeiten gefeiert. Als das Schiff anfing zu rosten, sollte es verschrottet werden und wurde von Daniel Hahn davor bewahrt, auseinandergenommen zu werden. 50 Kilometer vom See nach München transportiert, um schließlich 2017 auf der Brücke über der Lagerhausstraße zu landen. Wir sitzen zu viert vor der Reling an Deck, lassen unsere Beine baumeln und halten die Gesichter in die letzten Sonnenstrahlen.
Das Schiff ist heute Abend unsere erste Station. An Bord wird ein 30. Geburtstag gefeiert, goldene Luftballons hängen in den Scheiben, und ich schnappe Wortfetzen in Spanisch, Französisch und Englisch auf. Im hinteren Bereich ist ein Biergarten mit Food-Market-Atmosphäre, es weht Elektromusik von einem kleinen Rave rüber. „Ich würde hier alle herbringen, wenn ich in München wohnen würde“, sagt Paul. Dann haut er ab, der Kater kickt rein, er will zurück ins Bett.
Man muss schon auf einer Insel wohnen, so wie Paul in Großbritannien, um nichts von der Alten Utting gehört zu haben. Selbst die „New York Times“ hat von dem „boat on the bridge“, dem Boot auf der Brücke berichtet.
„Ich habe vorgeschlafen“, sagt Frank und grinst. Er macht heute Fotos und hat blaue Socken, ein blaues Shirt und darüber eine blaue Jacke an. „Ich brauch ein frisches Bier“, sage ich, lache, und wir steigen vom Schiff. Unsere Tour geht weiter. Nächster Stopp ist die Kneipe Frisches Bier.
Aus 14 Hähnen wird hier gezapft. Am Tresen will ich eins bestellen, aber muss erst mal entscheiden, welches ich trinken will. Die Auswahl ist groß: dunkel, hell, Pils, Pale oder Indian Pale Ale. Auf einer Tafel sind mit Kreide bis zur Decke verschiedene Sorten geschrieben. Heute Abend steht da: „Ocrabrau“, „Mad Scientist“ und das hauseigene Tilmans Bier. Der Brauer Tilman Ludwig war Stammgast bei Gastronom Maximilian Heisler in der Boazn Geyerwally. Zusammen haben sie 2018 die Oase für Biervielfalt eröffnet und bieten seither Bier kleiner Brauereien vom Fass. Wenn eines ausgetrunken ist, wird ein neues aufgemacht und die Karte wechselt.
So international und regional wie das Bier sind auch die Gäste. Im Außenbereich sitzen drei Finninnen, drinnen stößt Hopfenbauer Sebastian mit mir an. Mit einem Kumpel ist er von der Hallertau, dem größten Hopfenanbaugebiet der Welt, für das Helge-Schneider-Konzert nach München gekommen. Bevor es mit dem Zug heimgeht, wollte er noch auskosten, was München zu bieten hat.
Unsere Tour geht weiter. Nächster Stopp ist die Kneipe Frisches Bier. Aus 14 Hähnen wird hier gezapft.
Sebastian hält ein Glas dunkles Bier mit Hopfenblüten-Aufdruck in der Hand. Nimmt einen Schluck. Schmeckt. „Ist ja klar, ist auch mein Hopfen drin“, sagt er und lacht. Nach dem bayerischen Reinheitsgebot aus dem Jahr 1516 macht der immerhin ein Drittel der erlaubten Zutaten aus: Gerstenmalz, Wasser und eben Hopfen. Seine Pflanzen hat Sebastian schon im April angedreht, sie brauchen das gleiche Klima wie Marihuana, denn sie gehören zu den Hanfgewächsen. Bevor wir tiefer im Hopfenanbau graben können, muss er los zum Bahnhof, es ist halb zwölf.
Damit der Abend auch noch am nächsten Tag unvergesslich bleibt, ist es ratsam, Getränke zu mischen und durcheinanderzutrinken. Als nächstes Aperol Spritz! Gibt es im „Frischen Bier“ nicht, also machen wir einen Locationwechsel. Während wir sehen, wie Hallertau-Sebastian seinen Kumpel auf der anderen Straßenseite weckt, der dort an der Bushalte schläft, winken wir den Finninnen zu und brechen ins Le Hygge auf. Die Fenster sind mit Graffiti besprüht, auf der Tür steht „Leben“ und die Cafébar sieht aus, als wäre sie schon immer in der Ehrengutstraße gewesen. Dabei gehört sie zu einer der spannenden Neueröffnungen der Pandemie.
„Das ist keine Partymeile“, werden wir von einem Mann im Hippiegewand begrüßt. Es ist Sobi Darcal, der Besitzer. Er hat schwarze Locken, einen grauen Bart – und Brusthaare blitzen zwischen einer blauen Edelsteinkette und einer mit Peace-Zeichen hervor. Sein Lokal ist ein Gesamtkunstwerk im Shabby-Chic. Bunt zusammengewürfelte Stühle, von Samtcouch zu Schaukelstuhl, zwischen Schwarz-Weiß-Fotografien an den teils unverputzten Backsteinwänden hängen Instrumente, Krimskrams steht herum wie beim Antikflohmarkt.
Wir bestellen Aperol Spritz, Whiskey Sour und Liquid Cocaine. Eine Gitarre nehmen wir für eine kleine Jamsession von der Wand. Sie wandert von einem langsamen Boogie-Woogie zu den ersten Akkorden von „Wonderwall“ und schließlich einen Tisch weiter. Neben uns sitzen talentierte Musiker, der eine spielt einen Song von Amy MacDonald. Es klingt auch schief, denn die Saiten sind verstimmt. Sobis Traum war, einen alternativen Künstlertreff zu schaffen, einen Ort der Begegnung, der Menschen verbindet. Bei uns hat das diesen Abend geklappt. Schnell mischt sich unsere Gruppe mit einer anderen.
Es ist etwa ein Uhr, so früh war ich hier noch nie. Eigentlich tanzt man in der Gruam am Schluss, denn sie hat bis elf Uhr vormittags geöffnet. Sie ist ein Afterhour-Schuppen mit übler Vergangenheit.
Wir wollen zusammen weiterziehen. Überlegen, ins Valentin-Stüberl zu gehen, eine Kneipe, in die man früher nur mit einem Schlüssel gekommen ist, den man im Restaurant auf der anderen Straßenseite abholen musste. Doch fürs Stüberl sind wir zu viele. Also lieber Kickern in der Südstadt? Eine Art Punkrock-Wohnzimmer direkt neben der Ex-Tabledancebar Pigalle. Oder vielleicht kurz cornern mit Bier von der Tankstelle?
In diesem Moment kommt Padi rein. Er trägt seinen Festivallook, mit Glitzer im Gesicht und fliederfarbener Radlerhose und hat Bock zu tanzen. Eigentlich wollte er auf das „Wannda Open Air“ in Freimann, doch dann musste er wegen des guten Wetters in der Eisdiele einspringen. Eine Freundin von ihm legt in der Gruam auf. Die anderen wollen lieber auf die andere Isarseite ins Charlie.
Nur Sobi will uns noch nicht gehen lassen. Die Bar hat er aus alten Benzinfässern zusammengebaut und die Wände mit Büchern verkleidet. Tagsüber gibt es vegetarische und vegane Köstlichkeiten aus Okraschoten, Kichererbsen und Auberginen. Er gießt Frangelico in Schnapsgläser, quetscht ein paar Tropfen aus einer Zitrone dazu, begleitet uns bis zur Tür. Dort gibt Sobi dem Fotografen noch Tipps zu seinem Outfit: „Die Socken sind scheiße.“ „Die Jacke ist geil.“ Und: „Wieso so viel blau?“ Er lacht, seine Locken wippen. Nett ist das nicht, aber verdreht herzlich. „Ich stehe für die Liebe“, ruft Sobi mit ausgebreiteten Armen in die Stille der Nachbarschaft. „Alle anderen können mich mal!“
Eigentlich tanzt man in der Gruam am Schluss, denn sie hat bis elf Uhr vormittags geöffnet. Sie ist ein Afterhour-Schuppen mit übler Vergangenheit.
Wir haken uns ein, es ist das erste Mal seit November, dass wir zusammen feiern gehen. Von der Unterführung aus sehen wir schon eine Schlange vor dem kleinen Eckschuppen. Ich bin überrascht, wie viel los ist. Es ist etwa ein Uhr, so früh war ich hier noch nie. Eigentlich tanzt man in der Gruam am Schluss, denn sie hat bis elf Uhr vormittags geöffnet. Sie ist ein Afterhour-Schuppen mit übler Vergangenheit. Damals war sie ein Treffpunkt für Prostituierte und zwielichtige Gestalten. Heute geht hier ein viel harmloseres Publikum weg. Männer mit Hemd und gegelten Haaren, Frauen mit pastellrosa Caps, und ich spähe durch die Menge, ob der Pfarrer von St. Maximilian, dem Notre-Dame der Isar, auch da ist. Er hat hier seinen 51. Geburtstag gefeiert. Leider entdecke ich ihn nicht.
Die Gruam ist Münchens beliebteste Nahtanzspelunke. Wo man sich nahe kommt, wird sich auf die Füße getreten. Ich bin froh, dass ich keine Birkenstocks anhabe. Um Bier zu bestellen, quetsche ich mich zum Tresen durch. Durch das Fenster sehe ich, dass draußen mittlerweile genauso viele Menschen stehen wie drinnen zum Technoschunkeln. Zum ausgelassenen Tanzen ist es zu voll. Deswegen kommt man hier auch erst später her, denke ich, umfallen kann man eh nicht.
Der Bahnwärter Thiel ist ein Areal mit Containern, Graffiti und mehreren U-Bahn-Waggons, bunten Fähnchen, Lagerfeuer aus der Tonne und tanzenden Menschen in Schlangenleggins, Blumenkränzen und ganz viel Glitzer.
Obwohl der Platz in der Gruam wirklich überschaubar ist, haben wir Frank verloren. Wir suchen drinnen, draußen, und plötzlich steht er wieder vor uns. „Ab ins Bahni“, ruft Kati. „Bis später“, rufen wir noch dem Türsteher zu. Wieder durch die Unterführung, und durch ein riesiges Eisentor gelangen wir zum Bahnwärter Thiel.
Es ist ein Areal mit Containern, Graffiti und mehreren U-Bahn-Waggons, bunten Fähnchen, Lagerfeuer aus der Tonne und tanzenden Menschen in Schlangenleggins, Blumenkränzen und ganz viel Glitzer. Subkultur in einer Großstadt, wie sie Hollywood erschaffen würde. In München war es auch Daniel Hahn, der Gastrokapitän vom Schiff. Passt so gar nicht zum Lokalkolorit, könnte der meinen, für den München nur die Wiesn, Tracht und der FCB sind.
Kati drückt mir eine Mate in die Hand. Ich treffe eine Freundin, sie erzählt vom Wannda-Festival in Freimann, zur Afterparty sind sie ins Schlachthofviertel gekommen. An ihrer Sonnenbrille wippt eine Kette aus lila-transparenten Plastikgliedern. An einem Stand werden heiße Samosas verkauft, der U-Bahn-Waggon wackelt, es wird gehüpft, gestampft, geschrien. „Wo bleibt ihr denn?“, ruft Padi. Zieht uns mit sich auf die Tanzfläche. Drinnen ist es mindestens zehn Grad wärmer als draußen. Hunderte bewegen sich im gleichen Takt.
Die Bässe wummern, der Beat treibt und die Lichter blinken: blau, rot, lila, blau. Und wieder: blau, rot, lila, blau. Neben mir wird geknutscht, vor mir geraucht, um mich herum getanzt, als ob es keinen Morgen gäbe. Seit zehn Stunden bin ich unterwegs. Ich schnappe mir meine Jacke und gehe nach draußen. Die Sonne hängt über dem Gelände des Bahnwärter Thiel, versucht durch die Wolken zu scheinen. Den Sonnenaufgang habe ich vertanzt. Ich laufe an ein paar Unentschlossenen vorbei, an bunten Graffiti, durch die Unterführung und lande wieder vor der Gruam. Noch immer wird dort gefeiert. Ich überlege einen Moment, doch meine Nacht im Schlachthof ist vorbei.